So haben Sie die Altstadt noch nicht gesehen!

Die altvertrauten Gassen neu entdecken – das ermöglicht die Skulpturenführung der Kempener Künstlerin Edith Stefelmanns in der Reihe „Sonntags um drei“. Denn an vielen Ecken verbergen sich Kunstwerke, die man schnell übersieht.

Man sieht nur, was man kennt: Immer wieder gibt es im Verlauf des Skulpturen-Rundgangs an einem Sonntag im April erstaunte Blicke. Dabei sind alle Gäste aus Kempen, die einzige „Auswärtige“ ist aus Tönisvorst angereist. Aus den geplanten 90 Minuten werden zwei Stunden. So mancher steuert noch ein Anekdötchen oder weitere Informationen bei.
„Neue Kunst in alter Stadt“ – so nennt Edith Stefelmanns die Führung zu zeitgenössischen Skulpturen innerhalb des Altstadtrings und im Grüngürtel. Seit drei Jahren bietet sie diese Veranstaltung mehrmals jährlich in der Reihe „Sonntags um drei“ an. Edith Stefelmanns ist selbst Teil der Kunstszene Kempens mit einem Atelier in der Altstadt. Ihre Kunstwerke findet man etwa in der Kirche St. Josef, im Kempener Hospital zum Heiligen Geist oder am Torhaus S15 Schorndorfer Straße. Ihr Rundgang beginnt bei der „Ringergruppe“ von Jo Jastram vor dem Kulturforum. Der Bildhauer war ein bedeutender Künstler der DDR. Die Ringer waren 1977 auf der documenta 6 in Kassel ausgestellt. Die Skulptur wurde – sicher auch unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung – nach einer Ausstellung im Kramer-Museum 1990 mit Hilfe des Landes Nordrhein-­Westfalen angekauft. Die Akzeptanz-­Geschichte der Skulptur in Kempen spiegelt, dass moderne Kunst im öffentlichen Raum auf unterschiedliche Resonanz trifft. Nicht jedem mögen die beiden unbekleideten Männer mit den ineinander verknoteten Körpern gefallen haben. Jedenfalls musste die Skulptur 2004 den St. Martins-Figuren von Michael Franke auf dem Buttermarkt weichen, die später Teil der Führung sein werden.
Großes Erstaunen gibt es jedoch zunächst an der Skulptur von Inge Mahn, die etwas versteckt am Möhlenwall, in unmittelbarer Nähe des Kempener Kuhtors steht. „Sehe ich zum ersten Mal“, ist von einigen zu hören. Ein überdimensionaler grauer Milchkrug liegt auf einem weiß-blauen Fliesenqua-drat, als sei er gerade umgekippt. Edith Stefelmanns berichtet, dass die Künstlerin sich von der Umgebung habe inspirieren lassen. So sollen die Fliesen Bezug zu dem Dekor des Rokokosaals im Kempener Kulturforum haben.
Sie erläutert, dass „Der Krug“ Teil des ehrgeizigen Skulpturenprojekts Kempen gewesen sei. 1994 sollte anlässlich des 700-jährigen Stadtjubiläums und als Abschluss der Altstadtsanierung in der Grünanlage eine moderne Skulpturenlandschaft entstehen. Eine hochkarätig besetzte Jury wählte zwölf international renommierte Künstler aus, plastische Kunstwerke zu entwerfen, die einen Bezug zum historischen Ortsbild haben. Sechs Entwürfe wurden damals ausgewählt, nur vier wurden verwirklicht.

Eines davon ist das „Treppentor“ von Sybille Berke im Grüngürtel am Möhlenring. Auch so ein Kunstwerk, das man schnell übersehen hat. Denn die aus gebrannten Ziegelsteinen gemauerte Skulptur verschmilzt geradezu mit der dahinter liegenden Stadtmauer. Die Skulptur ähnelt tatsächlich einem Tor mit stufenförmigem Giebel, der – bei genauem Hinsehen – asymmetrisch ist. Er steht vor einer großen Öffnung in der Stadtmauer. „Das war früher ein Eingang in die Kempener Kleingärten im Grüngürtel“, weiß ein Teilnehmer zu berichten. Nur wenige Meter weiter lässt das kleine barocke weiße Gartenhäuschen diese Vorstellung der Stadtgärtchen noch lebendiger werden.
Auf dem Buttermarkt ist bei herrlichem Frühlingswetter an diesem Sonntagnachmittag Entspannung angesagt. Die Menschen genießen ein Eis, trinken eine Tasse Kaffee. Akkordeonmusik erklingt. Am Rathaus erinnert die Gedenktafel des vielfach ausgezeichneten Kempener Bildhauers Manfred Messing an dunklere Zeiten. Sie trägt die Namen der Opfer des Holocaust aus Kempen. 2004 wurde sie eingeweiht. Nur wenige Meter weiter stehen in der Propsteikirche St. Mariae Geburt zwei Hauptwerke seines Schaffens: Altar und Ambo aus dem Jahr 2009. Sie sind normalerweise Teil der Skulpturenführung, doch die Gruppe hat sich verspätet, und die Kirchentüren sind pünktlich ab 16 Uhr verschlossen. Öffentlich zugänglich bleibt dagegen das Thomas-Denkmal auf dem Kirchplatz. Diesmal kein zeitgenössisches, sondern ein historisches Denkmal aus dem Jahr 1901, zu Ehren des berühmtesten Sohnes der Stadt. Der Augustinerchorherr, Mystiker und Schriftsteller Thomas von Kempen wurde als Thomas Hemerken 1379 oder 1380 in Kempen geboren. Als sein Elternhaus gilt das Haus am Kirchplatz Nummer 12, wie ein mittelalterlicher Brunnenfund belegt.
Auf der Umstraße verweist Edith Stefelmanns auf „Stolpersteine“, die überall im Stadtgebiet an während der NS-Zeit ermordete, deportierte oder vertriebene Menschen erinnern. Nur wenige Meter weiter steht das Denkmal für die 1938 niedergebrannte jüdische Synagoge. Diskussionsstoff bietet die Skulptur „Übereinander“ von James Reineking an der Ecke Peterstraße/Hessenwall, auch sie Teil des Skulpturenprojekts. Er hat den Grundriss der Altstadt in sieben Segmente geteilt. Die Blöcke aus rostigem Cortenstahl wurden übereinandergeschichtet. Der etwas gewöhnungsbedürftige Aufstellungsort an einer Ecke der Stadtmauer sei vom Künstler bewusst so gewählt worden, erzählt Edith Stefelmanns.

Nach einigen Minuten Spaziergang erreicht die Gruppe die Thomas-Skulptur von Edith Stefelmanns im Grüngürtel am Donkring. Es ist interessant, diesmal Informationen „aus erster Hand“ zu bekommen. Im November 2018 wurde die vom Kempener Lions-Club initiierte Skulptur eingeweiht. Sie besteht aus vier unterschiedlich hohen schlanken eckigen Stelen, deren Enden schräg abgeschnitten sind. Drei sind aus rostigem Stahl, eine aus indischem Granit. Diese trägt auf ihren Seiten bekannte Aussprüche des Thomas von Kempen. Die Zahl Vier steht unter anderem für die vier Bücher von der „Nachfolge Christi“, mit dem Thomas seine Geburtsstadt weltberühmt machte. „Dieser Auftrag war mir eine Ehre“, sagt Edith Stefelmanns.
Der Rundgang führt nun zur Skulptur „Kappesbauern“ von Karl-Henning Seemann hinter der Sparkasse am Viehmarkt. „Die Bewegungen bei der Ernte des Kohls wurden wie im Daumenkino eingefroren“, so die Erläuterung dazu. Der Rundgang endet wieder an der Burg, mit dem Blick auf eine leere Grünfläche. „Hier sollte eigentlich ein Kunstwerk stehen“, sagt Edith Stefelmanns. Nur noch ein Rondell aus Osterglocken zeigt den Ort an, wo einst die kreisförmige Teakholz-Bank des japanischen Künstlers Katsuhito Nishikawa zum Verweilen einlud. Bereits nach kurzer Zeit war sie durch Vandalismus so beschädigt, dass sie abgebaut und eingelagert werden musste. „Sehr bedauerlich“, findet das Edith Stefelmanns. „Das war sehr interessant und hat Spaß gemacht“, heißt es von den Teilnehmern zum Abschluss. „Man sieht Kempen jetzt ein bisschen anders“, sagt eine Dame.

Text: Eva Scheuss, Fotos: Eva Scheuss, Patrick van der Gieth