Ulli Potofski trifft Ute Gremmel-Geuchen

Organistin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes

Ulli Potofksi: Sie haben im Februar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Worüber haben Sie bei der Verleihung gesprochen?
Ute Gremmel-Geuchen: Es war mir ein Anliegen, die Auszeichnung an mich ein wenig zu relativieren. Denn es gibt natürlich viele Menschen, in unserem Land, aber auch hier konkret in Kempen, die sich engagieren, die ehrenamtlich tätig sind, die nicht mit solch einer Auszeichnung bedacht werden. Ich finde, eine solche Auszeichnung ist stellvertretend für viele andere, die sich engagieren. Das war mir wichtig zu betonen. Grundsätzlich finde ich es gut, dass unser Staat mit der Auszeichnung deutlich macht, dass es wichtig ist, sich zu engagieren und für ein gutes Miteinander zu sorgen. Ich habe in diesem Zusammenhang ein sehr bewegendes Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau gefunden und es war mir wichtig, es zu erwähnen. Ich hatte das Glück Herrn Rau persönlich ein wenig kennenzulernen. Er war Patenonkel einer Mitchorsängerin in Düsseldorf, wo ich herkomme. Deswegen war er oft bei unseren Chorkonzerten. Er hat einmal gesagt: „Das Bundesverdienstkreuz ist nicht nur ein Stück Metall auf dem Markt der Eitelkeiten, sondern ein Zeichen für mehr Mitgefühl, Menschlichkeit und Miteinander statt Gegeneinander.“
Ich finde eine tolle Auszeichnung. Werden Sie diese denn auch tragen?
Ich weiß es noch nicht genau. Es gibt eine Damen- und eine Herren-Variante. Bei den Damen ist es diese Schleife, die man tragen kann, wenn man nicht das ganze Kreuz tragen möchte. Bei den Herren ist es ein Band. Mein Vater hat vor über 40 Jahren diese Ehrung bekommen, er war sozial engagiert, war Bewährungshelfer und von Betoffenen vorgeschlagen worden. Er hat es tatsächlich recht häufig getragen.
Das ist ja auch sehr dezent.
Genau. Und wie ich sagte, man ist von vielen abhängig, wenn man sich engagiert, von der Familie besonders. Meinem Mann und unseren Kindern danke ich sehr für ihre stetige Unterstützung. Wenn ich an das Stolpersteinprojekt denke, da ist der Kempener Historiker Hans Kaiser sehr wichtig. Bei dem Orgelprojekt hat Karl Nagels natürlich sehr unterstützt, indem die Orgel in der Paterskirche zu einem großen Teil von ihm finanziert wurde und er mit mir gemeinsam Spenden gesammelt hat. Seine Familie unterstützt bis heute die Kempener Orgelkonzerte.
Lassen Sie uns über Musik sprechen. Wie viele Orgelkonzerte gibt es?
Wir veranstalten in der Regel acht bis zehn Orgelkonzerte. Wir haben schon ein reiches Musikleben in Kempen, da muss sich die Reihe eingliedern, darum sind es nicht mehr. Es gibt dazu schon mal kleinere Veranstaltungen, wie Orgelvorführungen für Schulklassen oder Gruppen.
Wer stellt denn das Programm zusammen?
Das mache ich. Ich bin die musikalische Leiterin und wir haben seit einigen Jahren immer einen Wechsel von Paterskirche und Propsteikirche. Da bin ich im guten Einvernehmen mit dem Kantor Christian Gössel und organisiere die Konzerte dort in Absprache mit ihm. Das sind zwei sehr unterschiedliche Orgeln.
Wie unterscheiden sie sich?
Die Orgel in der Propsteikirche ist größer, hat drei Manuale, über 40 Register und ist eher symphonisch ausgerichtet, also für romantische Musik besonders geeignet, während die Orgel in der Paterskirche eine rekonstruierte Barockorgel ist und besonders für die Werke von und vor Bach prädestiniert ist. Wir können so Organistinnen und Organisten einladen, die sich auf eine bestimmte Musik spezialisiert haben.
Sind Sie schon als Kind an das Instrument herangeführt worden?
Ich habe erst Klavier gespielt. Dann fängt man meist mit 12/13 Jahren an, Orgel zu spielen. Man muss eine gewisse Größe haben, um ans Pedal zu kommen. Wenn man schon Klavier spielen kann, kommt man auf der Orgel schneller voran, auch wenn der Anschlag anders ist und das Pedalspiel hinzukommt. Meistens ist man auch der Kirche verbunden. Mein Vater war Presbyter und er war sehr verbunden mit der Kirchengemeinde in Oberkassel.
Gibt es so etwas wie Hits in dem Bereich, die die Leute wiedererkennen und immer wieder hören wollen?
Beim Bachschen Orgelwerk ist das natürlich die d-Moll Toccata, die kennen Sie auch. Obwohl man nicht ganz genau weiß, ob sie wirklich von ihm ist. Da gibt es unterschiedliche Theorien. Vielleicht war es auch ein Violinstück, das später umgeschrieben wurde. Es ist ein sehr wirkungsvolles Stück. Das kennen alle und die Leute freuen sich, wenn man es spielt.
Wie oft müssen Sie noch üben zwischendurch?
Jeden Tag, fünf Stunden. Der Konzertkalender dieses Jahr ist voll mit sehr unterschiedlichen Programmen. Bei uns Organisten ist es ja so, dass die Orgeln sehr unterschiedlich sind. Das heißt, man sucht immer ein Programm speziell für ein Instrument, auf dem man spielt, aus. Da habe ich dieses Jahr viele verschiedene Programme vorzubereiten. Ich habe jetzt zum Beispiel bald ein Konzert für Cembalo und Kammermusik in der Paterskirche für Kempen Klassik am 26. März. Kurz darauf spiele ich ein Orgelsolokonzert im Konzerthaus in Berlin mit dem Titel Hell und Dunkel. Das Konzert ist am Ostersamstag und stellt den Übergang zwischen Karfreitag und Ostersonntag her. Da spiele ich romantische Musik, Mendelssohn und Reger. Da muss man schon sehr viel üben. Das ist mein Job.
Aber Sie sind glücklich mit dem was Sie tun? Empfinden Sie das als Arbeit?
Das darf man nicht unterschätzen. Man sagt ja immer: „Ihr Musiker macht den ganzen Tag euer Hobby.“ Aber es ist auch Arbeit. Man muss sich gut konzentrieren und sich selbst sehr gut zuhören. Man muss technisch schwierige Stellen ständig üben, wie ein Sportler. Das macht nicht immer Spaß und man ist auch sehr erschöpft, wenn man gut geübt hat. Aber wenn es einem am Ende gelingt, der Musik vollkommen gerecht zu werden und die Menschen damit zu bewegen, wird man unendlich belohnt für alle Mühen der Vorbereitung.
Haben Sie die Leidenschaft für die Musik auf Ihre Kinder übertragen können?
Ja, sie spielen alle ein Instrument. Allerdings ist nur eine auch Musikerin geworden. Das ist unsere Zweitälteste, Clara Blessing. Sie hat sich auf das Spiel der Barockoboe spezialisiert und hat eine Professur für Barockoboe an der Musikhochschule Würzburg.
Wissen Sie, was meine erste Bekanntschaft mit einer Orgel war? Ein wunderbares Vorspiel zu einem Popsong, Whiter Shade of Pal von Procol Harum, kennen Sie das?
Nein, leider nicht. Vielleicht wenn ich es höre.
Es ist so eine Erinnerung für mich, dass ich da zum ersten Mal eine Orgel wahrgenommen habe. Ich höre es heute noch gerne. Haben Sie mal Berührung gehabt zu Popmusik? Bands wie Emerson, Lake and Palmer haben ja auch klassische Stücke verarbeitet. Haben Sie das auch mal gehört, gemacht, gemocht?
Ich höre auch andere Musik. Da bin ich nicht so festgelegt. Ich habe früher total gerne Beatles gehört – das machen wir immer noch. Ganz aktuell bin ich nicht so informiert. Ich selbst mache auch keine Popmusik. Ich finde es ok, wenn andere das machen und berücksichtige das auch in unserer Konzert-Reihe. Wir hatten zum Beispiel Barbara Dennerlein als Organistin da, die auf der Hammond-Orgel Jazz-Improvisationen macht. Im vergangenen Jahr war das Jazz-Ensemble HOT aus den Niederlanden da, die haben sich darauf spezialisiert die Pfeifenorgel dafür zu nutzen. Das ist gut angekommen. Mir ist wichtig, der Orgel die Türen in andere Richtungen zu öffnen.
Sie haben auch ein kleines Büchlein gemacht für Kinder, mit dem sie diese an die klassische Musik heranführen wollen. Wie reagieren denn Kinder darauf? Ich habe einen Bekannten, der geht in Schulen, um den Kindern das Wesen eines Tenors nahezubringen. Wenn er anfängt zu singen, lachen die alle, weil sie es nicht kennen. Welche Erfahrungen haben Sie da?
Ich habe das Projekt Orgelkids in Kempen eingeführt, bei dem man eine kleine Orgel zusammenbaut. Die Materialien, Pfeifen, Tasten, Ventilverbindungen, Windlade, sind in einer Kiste und man baut dann gemeinsam eine kleine Tischorgel zusammen. Das funktioniert innerhalb von einer Schulstunde, dann kann die Orgel schon gespielt werden. Und da sind die Kinder sehr begeistert. Das Projekt führt nicht unbedingt dazu, dass im Anschluss mehr Kinder das Orgelspiel erlernen wollten oder mit ihren Eltern Orgelkonzerte besuchten. Aber es gelingt zumindest, im Rahmen dieser Instrumentenkunde auf das Instrument Orgel aufmerksam zu machen.
Ich habe mich vor vielen Jahren mit Heiner Geißler unterhalten und er hat die These vertreten, dass, wenn wir all unseren Kindern ermöglichen würden, ein Instrument zu spielen, dass dann unsere Gesellschaft sehr viel mehr in Ordnung wäre. Würden Sie das teilen?
Ich würde schon sagen, dass Leute, die sich insgesamt für Kunst und Kultur interessieren und offen sind für die Botschaften, die Kunst und Kultur vermitteln, dass die dann schon in der Lage wären, ein anderes Miteinander zu pflegen. Man hat eine bessere Welt, wenn Kultur als etwas Wichtiges erfahren wird. Ich glaube nicht, dass alle ein Instrument spielen sollten. Das liegt nicht jedem. Es gibt gute Projekte wie „Jedem Kind seine Stimme“ und Trommelprojekte. Das kann man auch in einer großen Gruppe machen und das motiviert die Kinder. Man wird sensibilisiert aufeinander zu hören und miteinander etwas zu machen. Das kann sehr wertvoll sein.
Sie engagieren sich in der Politik. Es ist von heute auf morgen viel Geld da, um Waffen anzuschaffen und die Bundeswehr zu unterstützen. Wäre es nicht genauso wichtig, ähnliche Summen für die Kultur und für die Bildung bereitzustellen?
Wir befinden uns durch den Ukraine-Krieg in einem Dilemma. Ich würde mich eher als Pazifistin bezeichnen. Ich war froh, als abgerüstet wurde, als Gorbatschow seine Perestroika durchsetzen konnte, die Wehrpflicht abgeschafft wurde. Ich fand es großartig, dass wir auf einem Weg des Friedens waren. Das hat sich nun dramatisch geändert und daher glaube ich, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine im Moment notwendig sind und damit leider auch die Investitionen. Natürlich fände ich es gut, wenn genauso viel auch für Kultur investiert würde. Man sieht ganz klar, dass der Etat auch hier in Kempen im Kulturbereich immer nur ein recht kleiner ist im Vergleich zu anderen Ausgaben. Als Künstlerin und auch als Kommunalpolitikerin setze ich mich dafür ein, dass der Kultur eine große Bedeutung zukommt und die entsprechende finanzielle Unterstützung gewährleistet wird.
Gleichwohl weiß ich natürlich um die Wichtigkeit anderer Projekte. Beispielhaft möchte ich das von der CDU-Fraktion angestoßene Projekt des Schulneubaus für die Gesamtschule nennen. Die Investition in die Bildung unserer Kinder hat natürlich ebenfalls einen hohen Stellenwert.
Gibt es für Sie so etwas wie ein politisches Vorbild, eine Politikerin oder einen Politiker, die Sie toll finden?
Ich würde sagen, Richard von Weizsäcker, der immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit gefunden hat – das finde ich schon sehr bemerkenswert. Aber das ist anderen Bundespräsidenten – Johannes Rau hatte ich schon erwähnt – auch gelungen. Mit dem Wort so viel zu erreichen, finde ich faszinierend. Der Bundespräsident hat ja eher diese repräsentative Funktion. Er hat die Möglichkeit, mit einem guten Wort etwas zu erreichen und ich denke, damit kann man mehr bewirken, als man gemeinhin denkt.
Würden Sie zu Markus Lanz in die Talkshow gehen?
Weiß ich nicht. Vielleicht hätte man da die Gelegenheit, Öffentlichkeit zu erreichen für verschiedene Themen. Grundsätzlich finde ich gerade diese Talkshow etwas unbefriedigend, weil da viele Themen nacheinander abgearbeitet werden. Ich finde es besser, wenn man monothematisch bleibt und über eine Sache sehr strittig diskutiert. Aber grundsätzlich schaue ich nicht so viele Talkshows.
Haben Sie noch eine Botschaft an die Stadt?
Es ist wichtig, dass Projekte wie das Stolperstein-Projekt oder die Orgelkonzerte langfristig weitergeführt werden. Meine Idee wäre, dass die Verwaltung hier und da mehr übernehmen könnte und müsste. Ich sehe natürlich als Stadtverordnete, dass die Zeitkapazitäten in der Verwaltung begrenzt sind. Aber das Projekt Stolpersteine müsste der Stadt ein Anliegen sein. Sei es bei Stadtführungen oder Führungen für Schüler. In anderen Städten übernehmen Archive oder Kulturämter die Organisation von Stolperstein-Rundgängen für Schülerinnen und Schüler oder andere Gruppen. Es würde mich freuen, wenn die Stadt Kempen langfristig ebenso die Initiative ergreifen würde.

Zur Person

Die 58-jährige Ute Gremmel-­Geuchen hat sich durch ihr langjähriges Engagement im Bereich Kultur und Erinnerungskultur verdient gemacht und hat dafür von Landrat Dr. Andreas Coenen die Auszeichnung im Rahmen einer Feierstunde erhalten. „Frau Gremmel-Geuchen setzt sich seit Jahrzehnten leidenschaftlich für die Kultur und die Erinnerungskultur im Kreis Viersen ein. Ich freue mich sehr, sie mit der besonderen Auszeichnung zu ehren“, sagte Coenen.
Ute Gremmel-Geuchen hat 1994 gemeinsam mit dem Kempener Unternehmer Karl Nagels den Verein „König-Orgel in der Paterskirche“ gegründet. Dem Verein ist es gelungen, bis zum Jahre 2000 insgesamt 850.000 D-Mark an Spendengeldern zu sammeln, um die barocke Orgel vollständig zu restaurieren. Die Musikerin ist künstlerische Leiterin der „Kempener Orgelkonzerte“, die acht Mal im Jahr stattfinden. Für das Festival „Niederrheinische Orgelreise“ ist sie als Projektleiterin tätig.
Die gebürtige Düsseldorferin hat darüber hinaus die Verlegung von Stolpersteinen im Kempener Stadtgebiet zum Gedenken an die Kempener Opfer des Nationalsozialismus initiiert. Nachdem ihr erster Antrag 2011 im Stadtrat zunächst abgelehnt worden ist, erzielte der zweite Versuch 2014 eine Mehrheit. Als Sprecherin der Initiative „Projekt Stolpersteine in Kempen“ organisiert sie seitdem die jährliche Verlegung der Stolpersteine und sammelt Spenden, um dies finanziell zu ermöglichen.