Ulrike Gerards
Erhaben wacht sie über der Altstadt: St. Marien wird sie kurz genannte, die Propsteikirche St. Mariae Geburt im Herzen Kempens. Der Mai ist als Marien-Monat bekannt. Zeit also für einen Besuch der alten Dame – und eine Entdeckungsreise der besonderen Art mit den Menschen, die über die Kirche wachen.
Natürlich hat die Gottesmutter Maria in der nach ihr benannten Kirche besondere Bedeutung. Der prächtige Marienleuchter über dem Mittelgang ist nur einer von vielen Zeugen dafür. Doch auch ihre Mutter hat ihren Platz. „Anna war hochverehrt in Kempen“, weiß Heiner Tendyck zu berichten. Die Annenstube im Gemeindezentrum Burse und das Kinderheim St. Annenhof zeugen noch davon. Und der Annenaltar. Fragt man Heiner Tendyck nach den besonderen Stücken in der Kirche, muss er nicht lange überlegen, sondern geht gleich auf das große Prachtstück im Altarraum zu. Das Gemälde der Flügel und die Schnitzwerke erzählen die Legende der heiligen Mutter Anna und ihrer Sippe sowie die Geburt der Maria. Es gibt also einiges zu sehen. Die Kempener haben den Annenaltar auch gerne „Püppkes-Altar“ genannt. Heute würde man es vielleicht als Wimmelbild bezeichnen. Denn hier wimmelt es nur so von Figuren, von Glauben, Geschichten und Geschichte. Nicht alle Szenen stammen aus der Bibel, einige haben ihre Grundlage in der „legenda aurea“, einem im Mittelalter weit verbreiteten Volksbuch mit Heiligenlegenden. Man kann sich kaum sattsehen. So viele Details sind faszinierend. Josef Lamozik deutet auf spielende Kinder, die eine Kugel durch einen Bogen befördern möchten. „Daran kann man erkennen, dass es das Bügelspiel, das ja heute noch an der Dorenburg in Grefrath gespielt wird, schon um 1500 gab, als der Altar entstand“, erklärt Josef Lamozik.
Dreht man sich herum, entdeckt man im Chorgestühl kleine Albernheiten und Gleichnisse. Die geschnitzten Darstellungen nehmen das Böse und die Torheit der Menschen aufs Korn. Wie der Fuchs, der den Strauß zum Essen einlädt, aber in einer flachen Schale serviert, sodass der Strauß dies kaum aufpicken kann. Die Revanche gibt es eine Reihe dahinter. Da serviert der Strauß Essen – in einem Krug.
Im fünften Jahr verrichtet Heiner Tendyck den Custos-Dienst in St. Marien, auch Kirchenwächter genannt, und bietet Kirchenführungen an. „Ich bin in Kempen geboren und seit meiner Kindheit hier in dieser Kirche. Aber erst jetzt habe ich gemerkt, was ich hier über 50 Jahre alles gesehen, aber nie richtig wahrgenommen habe. Da ist mir der Mund offen stehen geblieben“, erzählt er. Die vielen kleinen lustigen Anspielungen und frommen Geschichten. In den kleinen und großen Bedeutungen erschließe sich das Sakrale für ihn so richtig. Er schlage bei den Führungen immer auch die Brücke zu Glaubensfragen und zu den Worten des Evangeliums, ohne dabei zu predigen.
Heiner Tendyck und Josef Lamozik sowie Hermine Gilles und Barbara Drissen-Köhler gehören zum Team der Kirchenwächter von St. Marien. Sie öffnen die Türen für Besucher und stehen dann dort für Fragen zur Verfügung.
„Wir suchen Unterstützung für den Custos-Dienst, aber auch in den Reihen der Kirchenführer“, so Heiner Tendyck. Das Kirchenwächter-Team umfasst zurzeit 48 Ehrenamtler. Altersbedingt scheiden aber immer wieder einige aus, sodass Neuzugänge benötigt werden. Allein durch die Corona-Zeit seien 15 Leute weggefallen, so Hermine Gilles, die die Organisation übernommen hat. Sie übernimmt selbst oft Dienste und weiß, wie wichtig eine offene Kirche für viele Menschen ist. Besonders an den Feiertagen wird das Gotteshaus gerne besucht. Zuletzt war das Interesse an Palmsonntag mit 111 Besuchern besonders groß.
„Die meisten kommen und zünden ein Kerzchen an. Aber auch um sich die Kunstschätze anzusehen“, erzählt Hermine Gilles. Ein wichtiger Anlaufpunkt für Gläubige ist die Wallfahrtsmadonna. Die Marienfigur aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurde als Gnadenbild verehrt, was Kempen zeitweise sogar zur Wallfahrtsstadt machte.
Trotz des großen Interesses mussten zwischenzeitlich die Öffnungszeiten reduziert werden. Nun ist die Kirchentür ab Mai wieder zu den gewohnten Zeiten offen (siehe Info-Kasten). Wer sich vorstellen kann, einen Kirchenwächter-Dienst zu übernehmen, dem mangelt es nicht an Info-Material, wenn man Lust hat sich in die Besonderheiten der Kirche einzuarbeiten. Barbara Drissen-Köhler ist jüngst zum Kirchenwächter-Dienst dazu gestoßen, hatte aber bereits durch ihren Einsatz als Sakristanin sowie Kommunion- und Firmkatechetin einiges Wissen mitgebracht. Aber wenn man einmal keine Antwort auf eine Frage hat, ist das nicht schlimm. „Es macht auch Spaß, gemeinsam zu überlegen, was das bedeuten kann“, sagt Barbara Drissen-Köhler. Ihr gefallen besonders die niederrheinischen Elemente in den Kreuzweg-Bildern. Wer genau hinsieht, kann das Kempener Kuhtor und das Rathaus von Kalkar entdecken. „Das wäre ein tolles Spiel“, findet Barbara Drissen-Köhler, „wer findet alle Orte?“
Blick in die Geschichte
Nach dem Kempener Vikar und Chronisten Johannes Wilmius (1584 – 1655) wurde der Grundstein für die steingemauerte dreischiffige romanische Kirche um das Jahr 1200 gelegt. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts erfolgte die Erweiterung der romanischen Choranlage. Um 1400 wurde das Mittelschiff erhöht und durch ein gotisches Gewölbe ersetzt. Auch die romanischen Seitenschiffe wurden erhöht und den zwölf romanischen Säulen des Mittelschiffs wurde der Chorraum mit acht Säulen und Chorumgang zwischen 1440 und 1471 hinzugefügt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Kirche umfangreich saniert. Am 2. März 1945 wurde die Kirche bei einem Bombenangriff kurz vor Kriegsende schwer beschädigt. Kostbare Kunstwerke und Altäre waren ausgelagert worden und konnten erhalten bleiben. Die letzte grundlegende Sanierung der Kirche erfolgte von 1981 bis 1993. Im Rahmen dieser Sanierung bekam die Kirche auch ihre rote Farbe. Seit vier Jahren laufen nun erneut Arbeiten an der Außenhaut. Begonnen wurde am Turm und der Westseite. Mittlerweile läuft der fünfte Bauabschnitt. An der Südseite wird die oberste Schicht, die sogenannte Schlämme, abgetragen. Im Anschluss wird der Tuffstein mit einer neuen Dichtungsschicht versehen. Wer den Erhalt der Propsteikirche unterstützen möchte, kann dies mit einer Mitgliedschaft oder einer Spende an den Kirchbauverein. Kontakt: www.kirchbauverein-kempen.de
Verstärkung gesucht
Warum braucht es eigentlich die Kirchenwächter? Da fällt einem gleich die Geschichte der in den 60er Jahren gestohlenen Figuren aus dem „Kreuzaltar“ ein. Durch kriminalistischen Spürsinn kamen die wertvollen Figuren vor wenigen Jahren wieder zurück nach Kempen. Aber das möchte man nicht mehr erleben. Die Kirchenwächter haben ein Auge auf die Kunstgegenstände in der Kirche, stehen aber auch den Besuchern bei Fragen zur Verfügung.
Öffnungszeiten:
dienstags und freitags, 10 bis 12.30 Uhr und 14 bis 16 Uhr sowie sonntags, 14 bis 16 Uhr, dann ist Kirchenführung um 15 Uhr.
Die Dienste dauern zwischen einer und zwei Stunden und werden, wenn möglich, mit zwei Personen im Team durchgeführt. Wer bereit ist, sich diesem Team anzuschließen, kann sich im Pfarrbüro an der Judenstraße 14 melden: Tel 02152 8971020 oder per E-Mail an pfarrbuero@st-mariae-geburt-kempen.de