Lost Places – das sind vergessene Orte, die sich die Natur zurückerobert. Solche Orte auf der ganzen Welt zu finden, zu erforschen und zu präsentieren, haben sich Kai-Patric Fricke und Luca Platzen zur Aufgabe gemacht und erschaffen so einzigartige Gesamtkunstwerke.
Ulrike Gerards
Die Reste von mächtigen Säulen und dicken Mauern mitten im Grün lassen die einstige Pracht noch erahnen. Die Geschichte hinter diesen steinernen Zeugen ist so schön, dass sie Stoff für eine monumentale Hollywood-Verfilmung liefern könnte. Sie führt uns rund 120 Jahre in die Vergangenheit nach Abchasien, eine Region im Süden des Kaukasus, die zu Georgien gehört. Ein russischer Unternehmer, dessen Familie durch den Holzhandel reich geworden war, baute für seine an Tuberkulose erkrankte Frau einen Palast mit 365 Zimmern, die allesamt zum Meer ausgerichtet waren. Der Arzt hatte frische Luft verordnet, und diese stand so an jedem Tag des Jahres in einem anderen Zimmer zur Verfügung. Tatsächlich besiegte die Frau die Krankheit, die damals als unheilbar galt. Auf dem Areal entstanden insgesamt drei Sanatorien, in denen viele Menschen behandelt werden konnten. Die Frau überlebte ihren Mann und verbrachte ihre letzten Lebensjahre damit, Kuchen am Strand zu verkaufen, bis auch sie 1940 starb. Die imposanten Sanatorien sind durch den Zahn der Zeit und den Krieg heute nur noch Ruinen.
Kai-Patric Fricke hatte zunächst das Foto gemacht, und als er die Geschichte des Ortes in mühevoller Kleinarbeit recherchierte, mühsam kyrillische Schriften übersetzte, konnte er kaum glauben, welchen Geschichtenschatz er gefunden hatte.
Mit Luca Platzen und Stefanie van de Brock bildet er „Lost Places Art“, also die „Kunst vergessener Orte“. Die Gründung erfolgte vor fünf Jahren, 2019, auf dem Dachboden eines kleinen Hofes am Wolfersdyk in Kempen-Tönisberg. Sie wollen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf verfallene und außergewöhnliche Orte weltweit lenken. Sämtliche Fotografien sind selbst aufgenommen, Hintergründe selbst recherchiert. „Jeder Ort ist einzigartig, jede Geschichte besonders, und wir möchten an all das erinnern, was sonst in Vergessenheit gerät. Dafür steht Lost Places Art.“
Kai-Patric Fricke und Luca Platzen haben es geschafft, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen. Jetzt, im Herbst und Winter, sind sie unterwegs, um ihre Produkte zu promoten. Bücher, Kalender oder Kunstdrucke gehören dazu. Die Geschichte des „Sanatoriums der Liebe“ findet sich mit dem Bild im neuen Kalender für 2025 mit 13 Fotos und ihren einzigartigen Geschichten. Bei Ausstellungen oder bei Veranstaltungen wie dem Martinsmarkt in Vluyn am 2. und 3. November sind sie zum Beispiel anzutreffen. Sie freuen sich immer, wenn sie bei solchen Gelegenheiten mit den Kunden ins Gespräch kommen können. Ihre Bilder liefern sie in der Regel persönlich aus. Der Jahresanfang bietet dann meist Zeit, um auf neue Entdeckungstouren in der ganzen Welt zu gehen. In diesem Jahr bereisten sie Asien. Es ging durch China, Thailand, Kambodscha, Malaysia und Singapur.
Schon seit ihrer Kindheit waren sie unabhängig voneinander auf der Suche nach Entdeckungen und voller Forscherdrang. Kai-Patric wuchs im Ruhrgebiet auf und erforschte dort schon als Kind viele Orte. Bei Luca Plazen wurde das Interesse für die Fotografie geweckt, als er bereits mit acht Jahren Motocross fuhr und einen Bezug zur Motorsportfotografie fand. Bei der Fotografie von Lost Places liegt sein besonderes Augenmerk auf farbenfrohen Orten, die von der Natur rückerobert werden. „Gerade im südlichen Teil Europas gibt es faszinierende Objekte, die man in meinem Portfolio betrachten kann“, so Luca Platzen. Die Kempenerin Stefanie van de Brock (33) begleitet die Fotografen von Lost Places Art auf Fototouren durch Europa. Von der ersten Ausstellung an sei es ihr wichtig gewesen, dass die Bilder in den jeweiligen Räumen, mit Liebe zum Detail dekoriert werden. „Die Besucher sollen nicht nur ein Bild an der Wand sehen, sondern die Metamorphose unserer Zeit spüren.“ Dass alle drei sehr unterschiedlich sind, mache Lost Places Art besonders. Während Luca seinen Fokus auf die Leidenschaft des perfekten Momentes lege, seine Luftaufnahmen einen atemberaubenden Blickwinkel auf die Welt der verlassenen Orte zeigen, rege Stefanie mit ihrer Fantasie und surrealen Märchengeschichten zum Träumen an. Kai hingegen sei auf die Dokumentation, Aufarbeitung der detaillierten Geschichte spezialisiert.
„Wir haben uns kennen gelernt, da habe ich noch bei Sauels gearbeitet“, erzählt Kai-Patric Fricke. Neben der Arbeit für das Tönisberger Fleischwarenunternehmen nahm er sich die Zeit, um nebenbei zu fotografieren. Der gebürtige Tönisberger Luca Platzen hatte zufällig das Auto gesehen und sein Interesse war geweckt. Man verstand sich gut und so machten sie gemeinsam aus dem Hobby einen Beruf.
Was die beiden antreibt, ist mehr als die schnelle Jagd nach einem guten Schnappschuss. Um die verlassenen Orte zu finden, tauchen sie ein in die Geschichte des Landes und der Region. „Ich recherchiere die Kultur und die Architektur, befasse mich mit der Frage: Was prägt das Land? Zum Beispiel Armenien, es ist das älteste christliche Land. Es hat viele alte Kirchen und Klöster. Dann besorge ich mir die Denkmalschutzlisten und Listen der Kirchen und notiere jedes Gebäude, zu dem es keinen aktuellen Eintrag im Internet gibt.“ Manchmal gibt es nur wage Infos zum Standort. Aber vor Ort können einem die Menschen meist weiterhelfen. „Das macht es aus. Wenn man etwas findet, das durch die Politik, falsche Investition oder so etwas in Vergessenheit geraten ist“, sagt Kai.
Es ist die Schönheit des Verfalls, die ihn reizt. Wenn die Natur sich den Raum wieder erobert, entsteht Neues. Es kommt auch vor, dass die Recherchen nicht zum Ziel führen, dass die Ruinen abgerissen oder renoviert wurden. Aber meist haben sie doch ein gutes Händchen. Besondere Erlebnisse waren für ihn die Touren zum Areal des früheren Kernkraftwerks Tschernobyl in der Ukraine, desssen Reaktor 1986 explodierte, was bis heute als schwerster Unfall in der zivilen Nutzung der Atomenergie zählt. Und zum Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan. „Dort konnte ich mir meinen Kindheitstraum erfüllen, einmal in einem Space-Shuttle zu sitzen“, erzählt Kai. Von dem von der Sowjetunion erbauten Weltraumbahnhof startete 1988 die erste sowjetische Raumfähre. Es sollte ihr einziger Einsatz bleiben. Der Betrieb von Teilen der Anlagen wurde 1993 aus Kostengründen eingestellt. Sie beherbergen aber noch heute Shuttles, die langsam verfallen.
Ein Mekka also für Mitglieder der „Urbex-Szene“. „Urbex“ steht für Urban Explorer, also die Erkunder des städtischen Raums und sogenannter Lost Places. Gerade in unserer schnelllebigen, digitalisierten Zeit erfahre das Hobby einen regelrechten Hype, erklärte der Kulturgeograph Bradley Garrett, der lange zu dem Phänomen geforscht hat, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es gehe darum, an verlassene Orte vorzudringen, die den meisten Menschen sonst verborgen blieben. Er sieht darin einen wertvollen Beitrag zur Erinnerungskultur. In der Szene gibt es ungeschriebene Gesetze. So sollte man niemals den genauen Standort einer neu entdeckten Ruine verraten und bei einem Besuch keine Gegenstände entwenden oder zerstören.
Auf der anderen Seite gibt es auch Kritik. Denn an diese ungeschriebenen Gesetze halten sich längst nicht alle. Auch Kai-Patric Fricke kennt es, dass Adressen im Internet kursieren, was einen Run auslöst und Anwohner oder Eigentümer in Bedrängnis bringt. Oder dass die Lost Places durch Graffiti oder Vandalismus zerstört werden. Gerade in Deutschland kann das Hobby auch eine Gratwanderung sei, weil man beim Betreten verlassener Gebäude oder Flächen, die einen Besitzer haben, rechtlich Hausfriedensbruch begeht.
„Der Nervenkitzel spielt schon eine Rolle“, sagt Kai. So war der Besuch des Weltraumbahnhofs in Kasachstan, der militärisches Sperrgebiet ist, nur auf illegalem Wege möglich. „Dafür sind wir 40 Kilometer durch die Steppe gelaufen, gezielt morgens und abends, damit wir nicht entdeckt werden.“ Vor Ort patrouillieren einmal täglich Sicherheitsleute. „Einmal haben wir sie sogar in der Halle gehört. Sie haben am Shuttle eine Zigarette geraucht und sind wieder gegangen“, erinnert sich Kai. Für seinen Kindheitstraum habe er dies riskiert. „Heute würde ich das nicht mehr machen.“ Für ihn ist auch eine Grenze erreicht, wenn es Besitzer gibt, die nicht möchten, dass man ihr Gelände betritt. Man wisse nie, was dahinterstecke. Gerade in Deutschland arbeiten die beiden daher lieber mit Städten zusammen, die verlassene Orte zur Verfügung stellen. So ist zum Beispiel eine Ausstellung in Bocholt möglich geworden. Im Haus Baaken in Tönisberg präsentierten sie 2019 ihre Werke. Für alle, die mit dem Hobby beginnen möchten, empfiehlt Kai Orte, die öffentlich zugänglich sind (siehe Seite 11).
Sein Ziel sei es, alle Länder der Welt einmal bereist zu haben, sagt Kai. 60 Länder hat er schon auf der Liste, rund 200 sollen es werden. Dabei hat er einen Blick für die weltpolitische Lage. Denn wenn sich Konflikte einmal zuspitzen, könnte es sein, dass bestimmte Länder über Jahre nicht mehr bereist werden können. Weißrussland habe er schon verpasst, „dafür gibt es jetzt kein Visum mehr“. So hat er die Situation in Taiwan und auch in einigen südamerikanischen Staaten im Blick. Auch Borneo finde er spannend, wo es noch Orang-Utans in freier Wildbahn gibt. Auch wenn man meinen könnte, dass alles schon perfekt vernetzt ist. Die Welt hält noch einige „Lost Places“ bereit.
Lost Places Art
Luca Platzen und Kai-Patric Fricke bilden, begleitet von Stefanie van de Brock, das Team von Lost Places Art. Sie bieten ihre außergewöhnlichen Fotos als Kunstdrucke in unterschiedlichen Formaten an, dazu Kalender, Bücher und mehr. Alle Infos und Kontaktmöglichkeiten unter:
lostplacesart.com oder
lostplacesshop.com
Termine
Wer sich die Werke von Lost Places Art ansehen und vielleicht welche erwerben möchte, hat dazu hier Gelegenheit:
Kölner Hafen-Weihnachtsmarkt, Im Zollhafen 2 in Köln, vom 15. November bis 23. Dezember, sonntags bis donnerstags, 11 bis 21 Uhr, freitags und samstags, 11 bis 22 Uhr.
Made in Krefeld Special Weihnachtsmarkt auf dem Dyonisusplatz in Krefeld vom 15. November bis 23. Dezember, immer sonntags bis mittwochs, 12 bis 20 Uhr, donnerstags, 12 bis 21 Uhr, freitags und samstags, 12 bis 22 Uhr.
Mehr Infos und Kontakt-möglichkeiten unter
www.lostplacesart.com
Tipps für Einsteiger
Auto-Skulpturen-Park im Neandertal
Eine knappe Stunde fährt man mit dem Auto von Kempen bis nach Erkrath, wo man auf einem außergewöhnlichen Autofriedhof auf Fotosafari gehen kann. Autohändler, Designer und Konstrukteur Michael Fröhlich hat diesen Skulpturen-Park in einem Wald geschaffen, indem er 50 Oldtimer aus dem Jahre 1950 dem natürlichen Zerfall aussetzt, darunter ein Citroën Traction Avant, ein Porsche 356 oder ein Rolls-Royce Silver Wraith. Dazu warten einige weitere Kuriositäten auf dem Gelände. Eine Besichtigung des Auto-Skulpturen-Parks im Neandertal ist jeden Sonntag von 13 bis 16 Uhr möglich. Der Eintritt kostet 10 € für Besucher ohne Kamera und 20 € für Fotografen. Kinder haben freien Eintritt. Hunde müssen draußen bleiben.
Aalschokker in Dormagen
Das Besondere an diesem „Lost Place“ ist, dass er sich nur selten zeigt. Zuletzt im Jahr 2022. Denn der Aalschokker ist ein in den 90er Jahren versunkenes Wrack im Rhein, an der B9 zwischen Neuss und Dormagen, das nur auftaucht, wenn wir trockene Sommer erleben und der Rheinpegel sehr niedrig ist. Bei normalem Wasserstand ragt nur die Mastspitze heraus. Und dahinter verbirgt sich eine schaurige Geschichte. Denn der Eigentümer des 1906 für den Aalfang erbauten Schiffes war angeblich in ein Familiendrama verwickelt, wie die Rheinische Post berichtet, und musste wegen eines Tötungsdeliktes ins Gefängnis. Was aus ihm wurde, sei unklar, so die RP.
Beelitzer Heilstätten
Wer einen Trip nach Berlin oder Potsdam unternimmt, kann einen Fotoausflug zu den Beelitzer Heilstätten einplanen. Ende des 19. Jahrhunderts entstand dort eine Lungenheilanstalt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Gelände von der Roten Armee übernommen. Seit dem Abzug 1994 verfällt das Areal, wird aber langsam zu neuem Leben erweckt. So entstand dort ein Baumkronenpfad, der über eine Länge von mehr als 300 Metern die überwucherte Ruine eines der Heilstätten-Pavillons überquert. Es werden verschiedene Führungen über das Areal angeboten. Alle Infos dazu online: baumundzeit.de
Schiffswrack Edro III auf Zypern
Wer eine Reise nach Zypern plant, kann ein besonderes Fotomotiv aufsuchen – allerdings wohl nicht mehr allzu lange. Das Frachtschiff Edro III ist 2011 an der Küste Zyperns gestrandet und zum beliebten Touristenziel geworden. Da es in einem Naturschutzgebiet liegt, ist es nur schwer zu bergen. Zudem stehen der Bergung Uneinigkeiten zwischen dem Schiffseigner und der Versicherung im Wege. Mittlerweile hat sich das Schiff bereits deutlich geneigt und droht komplett zu kippen. „Meine Begehung der Edro III war 2022 äußert mühsam und gefährlich, da die Innenräume nur durch anstrengendes Klettern zu erreichen waren“, beschreibt Kai-Patric. Die äußeren Treppen und Böden seien sehr verrostet. Der Zahn der Zeit werde das Wrack wohl in die Tiefen des Mittelmeers ziehen.