Rund 32.000 Kreuze, so viele Tote, Geschichten, Schicksale – und bei jedem die eine Frage: schuldig oder unschuldig? Rund 50 Kilometer von Kempen entfernt befindet sich auf dem Gebiet der niederländischen Gemeinde Venray die flächenmäßig größte deutsche Kriegsgräberstätte weltweit. Ein Besuch in Ysselsteyn mit einer Gruppe des Kempener Gymnasiums Thomaeum.
Ulrike Gerards
Es beginnt als grauer Vormittag im Juli, wir nehmen vorsichtshalber den Regenschirm mit. Es ist wenige Tage vor Beginn der Sommerferien und am Gymnasium Thomaeum ist es Tradition, dass die achten Klassen die Kriegsgräberstätte Ysselsteyn in den Niederlanden besuchen. Begleitet werden sie unter anderem von Geschichtslehrerin Elisabeth Zanders. Ihr ist der Ort sehr vertraut. Denn ihr Vater sei damals als Jugendlicher als Luftwaffenhelfer eingezogen worden, erzählt sie. Jedes Jahr kam er mit seinen Kindern und Enkeln an diesen Ort.
Sebastian Trienekens begrüßt die Gruppe. Der Grefrather ist Geschichtslehrer am Erasmus-von-Rotterdam-Gymnasium in Viersen und gehört zum Team der Ehrenamtler, die Gruppen über das Gelände führen. Seine Schule hat im vergangenen Jahr eine Bildungspartnerschaft mit der Kriegsgräberstätte unterzeichnet, für die NRW-Finanzminister Dr. Markus Optendrenk die Schirmherrschaft übernommen hatte.
Sechs Kreuze steuert Sebastian Trienekens mit der Gruppe an und hebt so sechs Lebensgeschichten aus diesem riesigen, unübersehbaren Feld von Kreuzen hervor, die unterschiedlicher kaum sein können.
Eine der Geschichten ist die von Harry Herrmann. Er starb im September 1944 – da war er 17 Jahre alt. „Arbeitsmann“ steht als Rangbezeichnung auf seinem Kreuz. Wie alle jungen Menschen war er zum Arbeitsdienst eingezogen, dann mit seinen Kameraden ohne große Ausbildung an die Front geschickt worden. Die wenigsten haben die ersten zwei Wochen überlebt. Neben ihm liegen sieben weitere Jungen zwischen 16 und 18 Jahren, nur wenige Jahre älter als die jungen Besucherinnen und Besucher aus Kempen. Harrys Schwester kam 2010 nach Ysselsteyn und berichtete von ihrem Bruder, einem jungen Mann, sportlich, sensibel. Die Metzgerausbildung hatte er abgebrochen, weil er es nicht übers Herz brachte, Tiere zu töten.
Nur wenige Meter entfernt liegt mit Friedrich Kussin, einem Generalmajor, ein hochrangiges Mitglied der deutschen Wehrmacht, der während der alliierten Luftlandeoperation Market Garden bei Arnheim im September 1944 von britischen Fallschirmjägern erschossen wurde. An seinem Kreuz hängt ein Rosenkranz und ein Grablicht steht darauf. Auch das Kreuz von Ernst Knorr ist eine Station – „einer der größten Kriegsverbrecher auf dem Gebiet der Niederlande“, der äußerst brutal vorging, wie Sebastian Trienekens erklärt. Wochen nach Kriegsende kam Knorr in einem Gefängnis in den Niederlanden zu Tode. Offiziell hieß es, er habe sich selbst umgebracht. Es gibt aber Berichte, dass es seine Bewacher waren. Im krassen Kontrast dazu steht der Grabstein von Josef Meijer wenige Meter entfernt: 20. bis 21. Februar 1945. Er wurde nur einen Tag alt, starb als Neugeborener im befreiten Konzentrationslager Herzogenbusch, in das Zivilisten aus der Kampfzone in der Nähe von Aachen gebracht wurden. Eigentlich sollte das zu ihrem Schutz sein, aber die katastrophalen Bedingungen vor Ort wurden vielen Menschen zum Verhängnis.
Noch immer kommen neue Gräber hinzu
Immer wieder stellt Sebastian Trienekens den Schülerinnen und Schülern die Frage: schuldig oder unschuldig? Was ist mit dem jungen Deutschen, der fast noch ein Kind ist, aber für die Angreifer kommt? Was ist mit dem grausamen Kriegsverbrecher, der nach Kriegsende stirbt, bevor man ihm den Prozess machen konnte? Haben seine Bewacher, die zuvor so unter den Deutschen gelitten hatten, Schuld auf sich geladen, wenn sie für seinen Tod verantwortlich sind?
Und wie steht es um die Schuld von Jacob Dirk Wijker? Ein Niederländer, der sich freiwillig zur deutschen Armee meldete. Soldat zu sein, gab ihm die Möglichkeit zum Aufstieg. Für die Waffen-SS war er am Schreibtisch mit Verwaltungsaufgaben beauftragt. Der fast 19-Jährige war in seiner SS-Uniform unterwegs, als er von Widerstandskämpfern getötet wurde. Lange blieb die Identität seiner Leiche ungeklärt, bis einer der Widerstandskämpfer sein Gewissen auf dem Sterbebett erleichterte und von der Tat berichtete. Wijkers sterbliche Überreste wurden mit Hilfe eines DNA-Abgleichs mit seiner noch lebenden Schwester identifiziert.
Auch fast 80 Jahre nach Kriegsende ist die Kriegsgräberstätte nicht „abgeschlossen“. Rund 5.000 Kreuze tragen den Schriftzug „Ein deutscher Soldat“ – die Identität ist ungeklärt, insgesamt gelten aber 6.000 deutsche Soldaten auf dem Gebiet der Niederlande als vermisst. Rund 1.000 deutsche Soldaten sind also wohl noch unentdeckt auf dem Gebiet der Niederlande. Zuletzt sind noch Leichname bei Bauarbeiten gefunden und im August 2023 in Ysselsteyn beigesetzt worden. Eine kleine Abteilung der niederländischen Streitkräfte bemüht sich um die Identifizierung. Alle vorhandenen Daten zu Auffindorten, Zähnen oder Knochen werden aufbewahrt und abgeglichen, wenn neue Informationen hinzukommen.
Der Friedhof in Ysselsteyn war zunächst nicht geplant. Die Niederlande wollten alle deutschen Kriegstoten im Land exhumieren und in Deutschland bestatten lassen. Die niederländische Regierung kam aber dem Wunsch der britischen Besatzungsmacht nach, diese in den Niederlanden zu belassen. Im Oktober 1946 begann man damit, alle deutschen Kriegstoten von den Zivilfriedhöfen und aus Feldgräbern zu exhumieren und in Ysselsteyn beizusetzen.
Seit 1. November 1976 kümmert sich eine deutsche Organisation um das Areal, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Es gibt dort eine Jugendbegegnungsstätte und ein Besucherzentrum, in dem man die Ausstellung ansehen, in Namensbüchern die Gefallenen nachschlagen oder in einer Datenbank nach Namen, Orten oder Daten suchen kann. Für Kempen gibt es einen Namen: Heinrich Heinen, Gefreiter, 7. August 1914 bis 13. Mai 1940 – mehr erfährt man über ihn nicht. Aber die Forschungsarbeit geht unentwegt weiter. So bittet man unter dem Motto „Wir suchen Geschichte(n)!“, Informationen von Verwandten, die in Ysselsteyn liegen, mitzuteilen. „So bleiben die Geschichten der hier ruhenden Kriegstoten für die Zukunft bewahrt und bilden zugleich eine Mahnung zum Frieden, Versöhnung und Verständigung für die kommenden Generationen.“
Während des Rundgangs hat sich die Sonne durchgesetzt und es wird doch noch ein freundlicher Vormittag. Das Areal ist voller Symbolik und Geschichten. Auch die Bäume, das Glockenspiel, das alle halbe Stunde erklingt, die Anlage im Mittelpunkt des Geländes haben viel zu erzählen. Es sind Geschichten von Schuld, Leid und Trauer, die aber auch Hoffnung geben. Denn sie lassen immer wieder auch Liebe, Fürsorge und die guten Seiten vieler Menschen erahnen, die hier liegen und betrauert wurden.
Vom Ort der Trauer zum Ort der Begegnung
Sebastian Trienekens möchte die Schülergruppe, die bis zum Schluss konzentriert zugehört hat, mit einer versöhnlichen Geschichte entlassen. Die letzte Station ist ein Gedenkstein für den niederländischen Friedhofskommandanten Lodewijk Timmermans, der die Kriegsgräberstätte von 1948 bis 1976 verwaltete. Im Krieg war er bei seinem Dienst bei der Munitions- und Minenbergung verwundet worden. Im Lazarett begegnete er einem deutschen Soldaten, was seine Vorurteile gegenüber den Deutschen änderte, wie er später schilderte. Für Sebastian Trienekens ist dies ein schönes Beispiel dafür, was die Lösung sein muss: „Wenn man die Zukunft vernünftig gestalten möchte, geht das nur durch Kontakt, durch Versöhnung und Freundschaft.“ An diesem Ort begegnen sich Deutsche und Niederländer und halten unsere gemeinsame Geschichte lebendig. Aus dem Ort der Trauer ist ein Ort des Erinnerns, des Friedens und der Begegnung geworden. Ein Ort, den jeder und jede einmal besuchen sollte.
Erinnerung erleben
Timmermannsweg 75,
5813 Venray, Niederlande,
Tel. 0031 478-230001.
E-Mail: info@joc-ysselsteyn.com
www.joc-ysselsteyn.eu/home/
Im Besucherzentrum erzählt eine multimediale Ausstellung Geschichten des Krieges und gibt Einblicke in den Alltag der Menschen unter nationalsozialistischer Besatzung. Die Ausstellung ist sieben Tage die Woche von 9 bis 17 Uhr geöffnet und lädt zum kostenfreien Besuch ein. Für Gruppen werden geführte Rundgänge über die Kriegsgräberstätte angeboten.
1982 startete das „Projekt Ysselsteyn“, bei dem Kriegsgräberstätten als Begegnungsstätten vor allem für Jugendliche dienen. Klassen, Jugend- und Erwachsenengruppen können in der Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Ysselsteyn an Bildungsangeboten teilnehmen. Verteilt auf sieben Holzpavillons stehen bis zu 91 Betten zur Verfügung.
Die Kriegsgräberstätte Ysselsteyn ist unter anderem eine Station der „Liberation Route Europe“. Diese verbindet historische Schauplätze, über welche die alliierten Streitkräfte ab 1944 von Südengland aus über die Normandie bis nach Berlin vorrückten. Mehr unter: www.liberationroute.com/de