Sie sind unscheinbare „Helden des Alltags“. Mehr als 700 Personen haben sich als ehrenamtliche „Mobile Retter“ im Kreis Viersen registrieren lassen. Sie stehen sofort bereit, wenn Menschen in ihrer Nähe einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden. Eine App macht es möglich. Erlebe Kempen hat drei „Mobile Retter“ aus Kempen getroffen.
Eva Scheuss
Manchmal kommt es auf jede Sekunde an. Laut dem Deutschen Rat für Wiederbelebung (GRC) erleiden in Deutschland jährlich mehr als 70.000 Menschen einen Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb eines Krankenhauses. Durchschnittlich acht Minuten dauert es, bis der Rettungswagen eintrifft und professionelle Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet werden können. In sehr ländlichen Gegenden kann das sogar noch länger dauern. Das ist oftmals zu spät, die Sterberate ist hoch, denn schon nach einigen Minuten ohne Sauerstoffversorgung erleidet das Gehirn schwere, teils irreversible Schädigungen.
Um dem entgegenzuwirken, beteiligt sich der Kreis Viersen seit Oktober 2022 am System der Mobilen Retter. Es basiert auf der Erkenntnis, dass viele Menschen aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation grundsätzlich in der Lage sind, Herzdruckmassagen durchzuführen. Technische Voraussetzung ist ein Smartphone, das mittlerweile fast jede und jeder mit sich herumträgt. Über die App „Mobile Retter“ werden registrierte Ersthelfer von den Leitstellen geortet und zu der Einsatzstelle geführt. Das System ist erfolgreich. Beachtliche 769 aktive Retter verzeichnet der Kreis Viersen. Sie waren in durchschnittlich 3.15 Minuten vor Ort und absolvierten seit dem Start vor fast zwei Jahren 400 Einsätze.
Auch in Kempen gibt es ein dichtes Netz von Mobilen Rettern. Eine wesentliche Säule ist dabei das Engagement der Freiwilligen Feuerwehren auf dem Stadtgebiet, die allein 90 Mobile Retter bereitstellen. Feuerwehrleute gehören zu denjenigen, die aufgrund ihrer Qualifikation Mobile Retter werden können. Des Weiteren gehören dazu Angehörige von Hilfsorganisationen wie Arbeiter Samariter Bund, Deutsches Rotes Kreuz oder Malteser Hilfsdienst, Mitglieder von DLRG, THW oder dem Sanitätsdienst der Bundeswehr, Ärzte, Notfall- und Rettungssanitäter sowie Gesundheits- und Krankenpfleger. Zuständig für den Bereich der Mobilen Retter bei den Kempener Feuerwehren sind Kajan Sivaguru und Yannik Obczernitzki. Sie beiden sind hauptamtliche Notfall- und Rettungssanitäter und betreuen Mobile Retter wie Feuerwehrfrau Jenny Hoecker. Sie erzählen, wie das System in der Praxis funktioniert.
Geht bei der Leitstelle über die 112 ein Notruf mit der Indikation Bewusstlosigkeit/Herzstillstand ein, werden über die GPS-Komponente des Smartphones in der Nähe befindliche Mobile Retter alarmiert. Jenny Hoecker zeigt die App „Mobile Retter Kreis Viersen“ auf ihrem Smartphone. Der Alarm funktioniere auch, wenn das Handy auf „Lautlos“ oder „Nicht stören“ gestellt ist. Zuvor hat sie eingegeben, ob sie grundsätzlich in Bereitschaft ist. Im Alarmfall muss der Retter dann entscheiden, ob er den Einsatz annehmen will und kann. „Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit bin oder mich nicht wohl fühle, dann geht es eben nicht“, sagt Yannik Obczernitzki. Freiwilligkeit ist oberstes Prinzip. Erst nach einer Zusage übermittelt die Leitstelle die genauen Koordinaten zum Einsatz. Ein Routenfinder leitet den Retter zum Ort. Dort haben die Leitstellen im Regelfall telefonischen Kontakt zu denjenigen, die den Notruf getätigt haben, im häuslichen Umfeld meist die Angehörigen. Die Leitstelle betreut diese Personen und versucht, sie zu ersten Hilfsmaßnahmen anzuleiten. Telefonisch wird dann auch die Ankunft eines Mobilen Retters angekündigt, dessen genauer Standort der Leitstelle über ein Bewegungsprofil übermittelt wird. Die Helfer stehen dann in Zivil vor der Haustür und werden trotzdem sehr erfreut empfangen. „Die Leute sind einfach so dankbar, wenn Hilfe kommt“, so die Erfahrung von Kajan Sivaguru. Für die Mobilen Retter heißt es dann auf die Schnelle die Lage zu sondieren, etwas Struktur und Ruhe hineinzubringen und sofort mit der Herzdruckmassage und Beatmungen zu beginnen. „Es gilt die no-flow-time, in der nichts passiert ist, so gering wie möglich zu halten“, sagt Yannik Obczernitzki. Jenny Hoecker zeigt einen kleinen Notfallbeutel, den man an den Schlüsselbund anhängen kann. Er enthält dünne Handschuhe und einen Aufsatz für Beatmungen. Im Regelfall vergehen nur einige Minuten bis zum Eintreffen des Rettungswagens, aber die können lebensentscheidend sein.
Rund 50 Einsätze im Jahr auf Kempener Gebiet
Yannik Obczernitzki und Kajan Sivaguru gehören zu den Mobilen Rettern der ersten Stunde und führen auch die Schulung dafür durch. „Die dauert rund drei Stunden und besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil“, erläutert Yannik Obczernitzki. Dabei werden die App und das Alarmsystem erläutert, es geht auch um rechtliche und versicherungstechnische Fragen. Die Helfer sind versichert, an die Verkehrsregeln müssen sie sich auf dem Weg zum Einsatz trotzdem halten. Im praktischen Teil werden Reanimationen geübt. Bei den Feuerwehren in Kempen schaut man immer darauf, ob man dem Bewerber den Einsatz zutrauen darf und soll. „Bei ganz jungen und unerfahrenen Kollegen schlage ich manchmal vor, noch etwas abzuwarten und zunächst den ‚normalen‘ Dienst bei den Feuerwehren zu absolvieren“, erläutert Yannik Obczernitzki. Gelegentlich erwarten den Retter schwierige Extremsituationen, vor allem, wenn Kinder beteiligt sind. Nach der Schulung laden sich die Mobilen Retter die App herunter. Zudem wurde ein E-Mail-Account eingerichtet, der Beratungen nach belastenden Situationen ermöglicht. Rund 50 Einsätze begleiteten die Mobilen Retter im Jahr allein auf Kempener Gebiet. Ein System, das sich aus Sicht der Fachleute unbedingt bewährt hat. „Wir haben auch schon Leute zurückgeholt“, sagt Kajan Sivaguru.
Fotos: stock.adobe.com, Mobile Retter e.V., Patrick van der Gieth, Eva Scheuss